Und eins. Und zwei. Und drei.

Sabina Holzer ’14
Sublin/mes – philosophieren von unten
a queer reviewed journal,
Heft #4: rhythmus

Ich bin antimelodisch. Ich liebe die Harmonie der Gegensätze.
Wohin ich gehe? Ich gehe.

Versuche mit dem Augenblick Schritt zu halten. Tausende vorbeigehende Augenblicke. Teile mich tausend- fach. Fragmentarisch, ich und prekär, jeder Moment. Ich habe mich dem Leben verschrieben, das mit der Zeit entsteht. Nur in der Zeit gibt es Raum. Gibt es Körper. Und mit ihm grenzenlose Durchdringung. Pochendes Blut. Pulsierende Organe. Zirkulierende Elektroden. Kontrahierende Muskeln, die sich sogleich wieder entspannen. Zuckungen, heftig, zärtlich. Gravitation und Levitation. Kleine Sprünge, große Sprünge. Tanzen? Ich lausche. Körper. Intentionen. Regungen, denen ihr Sinn noch nicht gegeben wurde. Sie werden simultan registriert. Dem Herzen gemeldet. Zum Beispiel über vegetative Nerven. Aktivierung oder Hemmung, so pumpt es. Dementsprechend werden Sauerstoff und Nährstoffe durch den Körper geschickt. Werden aufgenommen, ausgeschieden. Pochpoch. Pochpoch. Erzähl mir von der Zeit. Dem Fluss der Zeit. Würde sie gleichmässig fliessen, wäre nichts unterscheidbar. Hier aber gibt es Akzente, darum Unterscheidung, darum Rhythmus. Rhythmisches Rauschen. Überlagerungen. Verzerrungen. Unregelmäßigkeiten.

Alberne Aktivitäten. Ich trommle mit einer Hand auf meinem Magen unter den Rippen, dort wo sich das Zwerchfell vom Atem bewegt, hebt und senkt. Die andere lege ich links neben meine Körpermitte. Vergewisserung. Besteht ein Herz darauf ein Herz zu sein? Der Atem fliest und macht aus dem Körper eine Welle. Ich lausche nach den minimalen, unmerklichen, zeitlosen Unterbrechungen, der Stille, dem Innehalten, bevor die Woge des Ausweitens und Sinken, des Entfaltens und Faltens meinen Körper und auch mich wieder in Besitz nimmt. Mein Magen knurrt. Endogene Perkussionen.

Urtümliche Musik. Unheimlich, fremdartig vertraut. Informationsaustausch. Verständigungen. Wechselwirkungen, Empfindungen, Wahrnehmungen. Sensorische Rhythmisierungen und Wandlung von Sinneseindrücken in Sinnhaftes. Die Vernunft ist nur Teil dieses Zusammenspiels, nicht ordnende Instanz. In Ordnung. Ich suche die Ordnung der Sinne im Sinnesgeschehen, da wo sich die Welt wieder und wieder zusammensetzt / ersetzt / versetzt / entsetzt. — Wo sie durch unsere Sinne gefiltert und in unserem Körper zirkulierend und pulsierend weitertransportiert wird. Ich höre Melodien aus Trommeln und Rhythmen. Woher kommen sie? Bin das nur ich? Wie viele bin ich? Die Schritte, die ich höre, sind meine eigenen. Die Welt im Widerhall.

Ich stolpere und springe. Ich falle, drehe und wende mich. Blinzle mit den Augen, um mich zu vergewissern, dass die Welt, wie ich sie sehe, die ist, welche sie ist. Feiner Trick. Ich wippe mit den Zehenspitzen und streife mit den Fingern auf den Tisch. Hin und her. Wiege mich leicht, wenn ich zu höre. Schwinge vor und zurück, auf und ab, wenn ich warte. Bevor ich losgehe. Auf dem Sprung bin.

Das 15. Jahrhundert ist mir im Blut, mir auf den Fersen. Und all die Menschen aus den unterschiedlichen Regionen Europas. Wir wollen tanzen. Wir müssen tanzen. Meist sind wir arm. Oft sind wir Frauen. Auch Männer sind wir. Unsere Prozessionen ziehen mit Musik und Gesang durch die Lande. Wir werden immer mehr. Manche lassen Familien und Beruf im Stich. Sie geben sich den Umzügen hin. Dem Rausch. Die Menschen tanzen und tanzen. Besinnungslos und ohne den Taumel zu unterbrechen. Teils singend oder unartikuliert schreiend, bis zur völligen Erschöpfung. Bis zum körperlichen Zusammenbruch. Wegen der Verzückung. Der Macht des Teufels. Dem göttlichen Fieber. Komm her, Tarantel Tarantella. Tanz den Veitstanz. Lass mich die Armut vergessen. Den Krieg. Den Hunger. Die Krankheit. Lass mich erinnern. Komm und lass mich die Musik hören. Wunderschöne Musik. Ich höre sie in meiner Tiefe. Eine Komposition aus verschlungenen Bahnen, verschobenen Symmetrien und explodierenden Punkten, die sich überschneiden. Geometrische Kammermusik. Herzkammernmusik auf offener Straße.

Ich fliege. Paul Valéry tanzt mit mir. Das ist kein Rhythmus, sagt er, denn hier kehrt nichts wieder. Und dass was wir erkennen, verformen wir. Ja, dieses Leben ist mehr ein indirektes Sich-Erinnern, als ein direktes Erleben.

Trotz des Stampfen ist der Boden weich und durchlässig. Mit jedem Schritt sinke ich. Mein Körper taumelt, schwankt und dreht sich pausenlos. Millionen von Spiralbewegungen um in der Welt zu sein, sie zu registrieren. Ein Gleichgewicht zu finden. Mein Trommelfell reagiert beim Gehen im Wechsel der Ausfallbewegung (wie um zu fallen) mit einer abfangenden Gegenbewegung. Auch beim Tanzen geschieht das. Sogar im Stehen, in den „Small Dances“.

Das ist die geniale Erfindung des Gehirns: durch die Gegenbewegung den Körper nicht in die Ruhe, den Stillstand, die Stabilität zurückzuholen, ihn aufs neue fallen zu lassen / fallen / lassen / fassen / loslassen. — Fall wird in einen neuen umgelenkt. Und weil es absichtlich geschieht, macht es keine Probleme. Denn das Gehirn, dass eine Bewegung einleitet, sieht den Fall voraus, antizipiert ihn und leitet rechtzeitig die richtige Korrekturbewegung ein. Tanzen ist spielen mit der Instabilität. Mit dem Gleichgewichtsorgan ist der tanzende Körper ein Meister / eine Meisterin — des gewollten Ungleichgewichts.

Mit tausenden tanzenden Körpern. Die der Tag davon trug. Die in der Nacht wiederkommen. Lebendig, gesichtslos, namenlos. Verschieden. In rhythmischen Einheiten. Selbstständig und trotzdem nicht einsam isoliert. Dynamisch (direkt oder indirekt) mit allen anderen verbunden. Das sind sie. All diese rhythmischen Komponenten arrangieren sich, ohne ihre Selbstständigkeit zu verlieren. Arrangements, welche die Selbstständigkeit nicht unterdrücken. Die die eigene Freiheit behaupten und gleichzeitig die Freiheit aller anderen schont — davon erzählt der Körper. Und so definiert Friedrich Schiller Tanz.

Etwas berühren und in Bewegung setzen. Subjekt werden ohne Subjektivität. Phänomene. Choreografiert von Georgia Vardarou bei Impustanz 2014 oder in einer Zukunft. Dynamische, kinetische Muster, deren Autorenschaft sie in die Hände ihre Tänzerinnen legt. In meine Sinne legt. Was ist dieses Schwingen der Arme, das Drehen mit dem Kopf, um die eigene Achse? Dieses Springen und Durchmessen des Raumes? Diese Verrenkungen am Boden? Diese eigenartigen Verschiebungen der Gestalten? Ist Tanz. Ist Rhythmus zwischen Subjekt und der Umgebung. Hier, ist die Umgebung ein weisser Raum. Auch der Hintergrund ist weiss. Leuchtende, farbige Lichtvierecke am Boden. Die Tänzerinnen treten miteinander in Kontakt. Selten mittels ihrer Blicke. Ohne sich nachzuahmen. Sensorische Kontaktaufnahme ohne aus dem Takt zu kommen. Sie hören aufeinander und lassen mit bestechender Nebensächlichkeit absurde Gestalten und Situationen aufblitzen / Positionen flitzen. Was? Warum? Wie? — Nicht das Was des Ergebnisses oder das Warum des Ziels sondern das Wie der Bewegtheit.

Rhythmus. Möglichkeit des Dialogs. Ohne Worte / andere Orte? Zum Beispiel: Empfindungen und Wahrnehmungen situativ, weil aus dem Moment. Kontextuell, weil in Kontakt mit sich selbst und den Anderen. Und institutionell, weil im Theater als Tanzstück auf einer Bühne. Sabotage! Das ist ein Theater und hier gibt es keine Theatralität. Kein erkennbares Bild. Keine bleibende Figur. Keine klassische Form. Nur Flüchtiges, zufälliges Vergnügen. Nicht konforme, spielerische Eigenwilligkeit. Phänomene in Phänomena.

Das Stück mit dem Bühnenlicht, als hätte Rothko seinen Water Mirrow in unterschiedlichen Farben getaucht / gebraucht / gehaucht / Farben und Narben / Formen ohne Normen. örper ohne psychologische, dramatische Transformation. In dem Versuch, sich dem Moment hinzugeben. Der Umsetzung von Erfahrungen. Sinnesempfindung in Bewegung. Nicht Passivität. Nicht Rezeptivität. Rhythmen, die aus Körperbewegungen entstehen. Sich nicht in ihren eigenen Verausgabungen erschöpfen. Sich erneuern, unendlich im Kontakt mit dem, was über sie hinausgeht / weht / geht / steht / fällt / gefällt / zerfällt / eine Falle stellt. — Das ist ungewöhnlich. Das ist Potentialität. Rhythmus.Bewegung der Wiederkehr. Von Kommen und Gehen. Von An- und Abwesenheit. Von Anreiz / Anspruch, Antwort. Spielerischer Masslosigkeit. In Kontakt treten, bevor eine erkennbare Form, eine Konvention entsteht. Haltlos. Wie das Leben.

Weit hinten dort und gleich da ist das Denken musikalisch untermalt. Und noch weiter hinten und gleich da liegt das Herz und pocht. So also ist das tiefste Denken ein pochendes Herz. Der Rhythmus für den Tanz. Der Schrittmacher für das Heben und Senken der Füße. Hoppla Hops. Yvonne Rainer und Steve Paxton nehmen sich an der Hand. „Ich habe das Gehen erfunden,“ sagt er. „Ich das Laufen“, sagt sie.

Aristoxenus, wiederum, ein junger Mann in der von Aristoteles geleiteten Schule der Peripatetiker (der „Umhergehenden“), hat die Regel und das Maß für den Rhythmus erfunden. Basis eines Rhythmus, so seine Meinung, sei eine Sequenz von Schritten. Diese allerdings dürfen nicht regellos sein. Sie sollen logisch sein. Jeder Abstand zwischen zwei Schritten muss zum vorangegangenen und zum nachfolgenden eine Beziehung haben. Der Zeitpunkt, wann der Fuss das nächste Mal auftritt, soll eine exakte Wiederholung des Vorangegangenen sein. Die einfachste vorstellbare Logik für Jedermann. Jeder Schritt gleich lang, gleich groß. Auch das Auf und Ab soll die gleiche Länge haben. Oder doppelt so lang oder gerade halb so lang, wie das Auf und das Ab / Schnapp! / Papperlapap / Hab ich Dich! — Eine Unterteilung des Schritts also im Verhältnis 1:1, 2:1 oder 1:2.

(Die Idee der Teilung / Feilung / Verteilung / Beurteilung / Uhr Teilung / Tick Tack — des Schritts im Verhältnis kleiner Zahlen kam Aristoxenus durch die Harmonielehre der Pythagoräer: Eine harmonische Verbindung von zwei Tönen entsteht dann, wenn die Längen zweier schwingender Saiten gerade in einem einfachen Verhältnis zueinander stehen. Diese Theorie ist, weil sie sich auf Längen und Längenverhältnisse stützt im Wesen geometrisch. Dieses Messen erzeugt einen Gleichschritt / Schnitt / Ritt / Fit / Fit mach mit — wie er zum Beispiel bei militärischen Paraden zu finden ist.)

Tanz ist für Aristoxenus das kontinuierliche Heben und Senken der Füße. Der diskrete Akzent beim Berühren des Bodens ist der Schritt. Er ist die sichtbare Einheit eines jeden Rhythmus. Aber nur was das Körpergefühl mit Hilfe der schreitenden Bewegung nachvollziehen kann, ist wirkliche rhythmische Ordnung. Auch das wusste er. In Ordnung. Rhythmus existiert nicht „an sich“, sondern braucht einen Körper, ein Medium um verwirklicht zu werden.

Rhythmus ist grundlegend. Rhythmus, heisst Nicht-Indifferenz von Zeiten und Räumen, heisst tatsächliche Differenz. In Situationen, Bewegungen und Räume. In vertrauten und alltäglichen Erfahrungen. In der Erinnerung. Im Vergessen. Im Hier und Jetzt. Rhythmus ist: Die Zeiten, die Räume. Ist Plural. Die Dehnung zwischen realer und konkreter Gegebenheit, einem Muster, einem Archetypen und der Entdeckung einer anderen Welt. Einer Welt, die wir zwar weder fliehen können noch wollen, die in uns aber den Wunsch nährt, tiefer in sie einzudringen.

Tanzen also. Alles in Rhythmus versetzten, mit-sein, überall ent-halten-sein. Teil sein. In der Malerei, einer Skulptur, im Film und sicherlich in der Sprache. So nähert sich der Tanz an die Teilhabe an. Der Methexis, wie Platon es sagt. Immer beherrscht von der Mimesis, gibt es beim Tanzen eine tiefe und komplizierte Beziehung. Eine Mimesis ohne Vorbild / Abbild. Gibt es Bewegung. Bewegte Teilnahme. Verlangsamt. Schnell. Annäherung. Distanznahme. Unmittelbare Verbindung. Erstaunlich. Ich sehe Tanzen oder ich weiss nicht, was ich sehe. Tanzen. Spüren. Hier und Dort. Hin und Her. Auf und ab. Eins zwei. Eins zwei drei. Schwingend. Pochpoch pochpoch.

Quellen:

Vardarou Georgia: Phenomena. ImPulsTanz 2014
http://www.impulstanz.com/archive/2014/performances/id683/
http://www.hiros.be/en/projects/detail/phenomena

Baier, Gerold: Rhythmus – Tanz in Köper und Gehirn. Hamburg: Rowolt 2001
Lispector, Clarice: Aqua Viva. Frankfurt / Main: Suhrkamp 1994
Rainer, Y., Berio, L., Kishik D., Nancy J.-L., Serres M., Thorn R.: Allesdurchdringung. Berlin: Merve 2008
Waldenfels, Bernhard: Sinnesschwellen. Frankfurt / Main: Suhrkamp 1999