EX ANTE: KALKULIERTE UND IMPROVISIERTE SPUREN

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(Archive)

Von Sabina Holzer


In der historischen Erforschung des Imaginären, des Träumens, der Kunst und dem politischen Einfluss auf die Gesellschaften eröffnen 2008 das Feld:

Einladung zum
Untitled Event Appropriated

Stelle einen leeren Stuhl in die Mitte des Raumes oder in die Mitte des Durchgangs.
Statte ihn mit einem Leselicht und einem Buch aus. Wenn sich bis zur Pause niemand dort
hingesetzt hat, setze Du Dich. Tanze.
Löse dich in Text auf. Im Textstrom. Verweigere dich zu sein, werde. Immer wieder.
Immerzu. Werden. Seit 1916.

Es gibt keine allgegenwärtigen Selbstverständlichkeiten. Die perzeptive Neukonstruktion der Bruchstücke ist notwendig.
Eliminiere oder minimiere: Phrasierung, Entwicklung, Klimax.
Variation: Rhythmus, Form, Dynamik. Charakter. Performance. Abwechslung: Phrasierung und räumliche Ausrichtung. Virtuose Leistungen und den totalen Einsatz des ganzen Körpers.

Tanze.
– Erinnere dich. 1952.

Es ist doch eine recht seltsame Sache, dass es hundert Jahre dauern soll um irgendein Ding zu verändern also etwas zu verändern es ist die menschliche Gewohnheit in Jahrhunderten zu denken und Jahrhunderte sind mehr oder weniger hundert Jahre und das ergibt einen Großvater eine Großmutter pro Enkel oder Enkelin wenn alles geht wie es soll und es geht oft ungefähr so wie es soll.

– 1952.
Das Ereignis findet im Speisesaal des College statt.
An den Längs- und Schmalseiten des Saales sind die Stühle für die Zuschauer jeweils in vier Dreiecken angeordnet, deren Spitze in die Mitte des Raumes weisen, ohne dass sie einander berühren. In der Mitte bleibt so ein grosser Raum frei, auf dem sich einige wenige Aktionen ereignen. Er dient als eine Art Durchgangsraum. – Tanze mit mir, Geliebter meiner 27 Sinne.
Verschiedene Sätze treten auf. Verschiedene Sätze treten nacheinander auf. Jeder Satz betritt die Situation, die alle vorhergehenden geschaffen haben. Diese neutralen Sätze laden sich mit der Situation auf.

Zwischen den Dreiecken sind breite Gänge frei, die zwei einander in der Mitte kreuzende Diagonalen bilden. Auf jedem Stuhl ist eine weisse Tasse platziert. Den Zuschauern wird keine Erläuterung zu ihrem möglichen Gebrauch gegeben. Sie verwenden sie zum Teil als Aschenbecher. Das kann dies und jenes heissen. Alles mag auch etwas anderes heissen. Der Apfel zwischen den Zähnen ist Geschmack. Der Stein auf meinem Schädel ist die Ursache der Beule. Die Dame vor deinen Augen ist einstweilen noch ein Anblick.

An der Decken hängen Gemälde von Robert Rauschenberg – seine „white paintings“.

Außer Cage und Rauschenberg beteiligten sich David Tudor, der Komponist Jay Watts, der Tänzer Merce Cunningham und die Dichter Charles Olsen und Mary Caroline Richards. Cage, im schwarzen Anzug mit Krawatte, stand auf einer Trittleiter und verlas einen Text über die Beziehung zwischen Musik und Zen Buddhismus sowie Auszüge aus Meister Eckharts Schriften. Kultiviere in dir eine grandiose Ähnlichkeit mit dem Chaos des umgebenen Äthers, löse deinen Verstand, lass deinen Geist frei. Sei still, als hättest du keine Seele.

 

Dies ist ein Vortrag Vortrag über einander über etwas und natürlich auch ein nichts. Darüber, wie etwas und nichts nicht entgegen gesetzt sind sondern einander brauchen, um in Gang zu bleiben.

Anschliessend führt er eine Komposition mit einem Radio auf. Zur selben Zeit spielt Rauschenberg alte Schallplatten auf einem handbetriebenen Grammophon ab, neben dem ein Hund sitzt. Der Hund kratzt sich am Kopf: „Soweit ich weiß, ist der wirkliche Schmerz der Tod.“

Er singt das Hundelied. Es ist ein Bekenntnis, geschrieben in den Dokumenten der Gründung, die das Schicksal einer Nation erklären.

Ja, wir können.

Sklaven flüsterten es und Gegner der Sklaverei, als sie den Weg in die Freiheit markierten.

Ja, wir können.

Einwanderer sangen es, als sie von fernen Küsten aufbrachen und Pioniere, die sich westwärts durch eine nichts verzeihende Wildnis schlugen.
Ja, wir können es.
Weil es nicht wahr ist, dass das animalische Leben vorüber ist, Weil wir keine wehrlosen Hunde sind, weil wir keine Sklaven sind, o ihr Hausbesitzer, obwohl ihr uns gelegentlich den Kopf tätschelt oder uns fickt, uns ein paar Brocken Essbares und Liebe hinwerft, uns todschicke Hundeausgehanzüge gebt, um uns zu Sklaven zu machen, weil eure Menschengeschichte, die Geschichte der Sklaverei, nicht unsere Geschichte ist. Weil eure Kultur Sklaverei ist.
Wir werden Katzen,
drei, vier.

David Tudor bearbeitet ein „prepared radio“. Später fängt er an, Wasser von einem Eimer in einen anderen zu giessen, während Olsen und Richards eigene Dichtungen vortragen – zum Teil inmitten der Zuschauer, zum Teil von einer Leiter aus, die an eine der schmalen Wände gelehnt ist. Cunningham tanzte mit anderen Tänzern durch die Gänge und zwischen den Zuschauern hindurch.

Lies diesen Text achtmal. Entwirf ihn nach jedem Lesen neu. Lies ihn einmal für die
Bedeutung, einmal für das Schöne, einmal für den Klang, einmal vor dem Spiegel, um zu
sehen, wie es aussieht, einmal für den Rhythmus und einmal für die Struktur. Lies ihn
und so weiter.

Cunningham wird von dem inzwischen völlig durchgedrehten Hund verfolgt. Rauschenberg projiziert auf die Decke und auf eine Längswand abstrakte Dias und Filmausschnitte. Sie zeigen zunächst den Koch des College (der kein anderer war als Fantômas) und später, als sie allmählich von der Decke auf die Längswand wandern, die untergehende Sonne. Es war ein langer, heisser Sommer.

Sie lag stöhnend auf den Feldern, auf denen das Stroh wuchs. Die Sonnenglut war so stark, dass sich das Gras in Stroh verwandelt hatte. Eine ihrer Hände schlich hinab zu dem blass bedruckten alten Stoff, während eine leichte Brise darunter zitterte. Sie war sich nicht bewusst, was sie tat. Eine leichte Ruhelosigkeit ließ ihre angewinkelten Knie ein wenig nach rechts bewegen. Die Sonne brannte auf ihrem Gesicht. Sie spürte es. Sie legte die Hand zwischen ihre Beine und umschmiegte den Hügel; dann hob sie die Hand an und ließ die Spitze ihres Mittelfingers leicht an der Innenseite des Fleisches entlang gleiten. Das Fleisch war rot wie der Burgunder des Landes. Tanzen.

In der Ecke spielt der Komponist Jay Watts auf verschiedenen Musikinstrumenten.

Steh auf. Fang an zu gehen, gehe schneller, beginne schliesslich im Kreis zu laufen.
Nimm unterschiedliche Kurven, transformiere sie zu Mandalas. Entwickle nicht eine
bestimmte Bewegungsphrase. Auch der Musiker arbeitet nicht an einer bestimmten Melodie.
Nütze die Energie, aus der verschiedene Formen entstehen. Betrachte dich mehr wie eine
Jazzmusikerin, die das Material entfaltet und versuche, offen und wach für Inspiration
zu sein. Fühle dich wie eine 66-jährige Saxophonspielerin in einer Jam.
Tanze. Du bist Zukunft.

Die Aufführung endet damit, dass vier weißgekleidete Jungen den Zuschauern Kaffee in die Tassen einschenken – ganz gleich, ob sie diese als Aschenbecher benutzt haben oder nicht.

(29.2.2008)