Hereinspaziert
Performancefestival Open, 10.5.2014
Text: Sabina Holzer, Fotosequenz: Jack Hauser
Liebe Miryam,
heute morgen hatte ich plötzlich die Idee, Dir zu schreiben. Ich hatte zuvor meinen Computer durchstöbert auf der Suche nach ein paar Sätzen von Kathy Acker aus ihrem Buch „Mein Leben, mein Tod. Von Pier Paolo Pasolini“. In dem Buch schreibt Acker als Charlotte Brontë ihrer Schwester Emily Brontë Liebesbriefe. Einer dieser Briefe endet so: Now there are two times: no time and slow time. No time is not the capitalistic substitution of commodities for values, as you say it is; no time is loneliness and the absence of love. The other time, slow time, is touching someone.
„Trete ich mit der Zeit in Berührung, lerne ich den Lauf der Zeit kennen“, so heißt es doch.
Liebe Miryam, jetzt kennen wir einander seit 10 Jahren. Ich könnte auch sagen, wir kennen einander 3.600 Tage, das sind so viele Tage, wie die Stunde Sekunden hat. Trotzdem und immer wieder: Wer bist Du? Wie machst Du das, was Du tust? Du, mein besonderes Experiment, meine geheime Mission.
Immer diese spezielle Herausforderung, dessen gewahr zu sein, was ist. Das, was kommt, willkommen zu heißen. Damit aus Handlungen Räume entstehen, in denen sich die Zeit als ein Geflecht von Intentionen entfalten kann. Wie beim Ausführen einer Geste, in der sich alle Vorgänge – Intention, Nerven, Muskel, Gewebe – synchronisieren, wie beim Öffnen der Hand bei einer Aufforderung zum Tanz.
Deine Sabina
Liebe Miryam,
auf meiner Suche habe ich zufällig noch etwas gefunden. Schau mal.
„Miryam van Doren ist schon lange unterwegs. Sie ist das Gemurmel der Gesellschaft. Zu allen Zeiten ist sie den Texten voraus. Sie wartet nicht einmal auf sie. Sie ist. Sie ist, was man oder frau aus ihr macht. In ihrem Appartement materialisieren sich seit 1999 Erfahrungen, Handlungen und Gedanken als Bilder, Filme und Objekte. – Man lernt, so wird erzählt, Miryam van Doren über ihre Umgebung, über ihre Notizen und Leidenschaften kennen, und als wundersame Begleiterin von Grenzgängern, Außenseitern und Heldinnen.
Ihr Koordinatensystem ist ein Materialpool von Handlungen, Praktiken und Filmen, die sich ständig rekontextualisieren. Gesten und Kleidung sind imaginative Dispositive, die als Cut-up in Raum und Zeit geschnitten werden und durch ihre performative Anwendung neue Verbindungen entstehen lassen. So werden Tätigkeiten zu Material.
In improvisatorischen Setzungen, die, wie bei John Cage, zwar oft eine zeitliche Klammer haben, in der aber nie festgelegt wird, wann etwas tatsächlich zum Einsatz kommt, entstehen spielerisch-musikalische Formate an der Schwelle von alltäglichen Zufälligkeiten und formalen Zusammenhängen.
Wer immer will, kann mit Miryam van Doren in Kontakt treten, so heißt es, denn jeder hat Erinnerungen, die sich so aktualisieren und in die Zukunft weisen oder sich endgültig verabschieden. – An diesem Ort, der Wohnung Miryam van Doren, geht auf eigenartige Weise die Angst verloren. Und das, obwohl die Wohnung voll ist mit Spuren und Kopien von unheimlichen Figuren und mysteriösen Gestalten, die schon manchen unruhigen Traum ausgelöst haben. Man verliert sich furchtlos in Begegnungen mit anderen und findet sich immer in irgendeiner Geschichte wieder.“
Hoffentlich auf bald,
Deine Sabina
Liebe Miryam,
vielleicht konstruieren wir beständig fiktionale Räume und rennen gegen Metaphern, die wir eigentlich so oder so deuten könnten. Diese Fiktionen könnte man als Bild eines Echos definieren. Als Bild deshalb, weil es räumlich ist – wie eine Seite, auf der man schreiben kann, ein Kreis, den man tanzt, ein Garten, in dem man umhergehen kann. Räume also, die durch Handlungen entstehen und durch Handlungen markiert werden, durch sie bestimmt sind und durch sie vergehen. Fiktionale und faktische Räume. Ihre Durchdringungen und ihre Zeiten.
Alles braucht Zeit, nicht wahr. Eine Zeit zum Schreiben, eine Zeit zum Kämpfen. Eine Zeit, um den Zusammenhang zwischen einem Gedicht und der Geschichte zu denken. Eine Zeit, um die Begegnung zwischen Poesie und Geschichte handeln zu lassen.
Alle Dinge, Situationen, Orte, Räume, Menschen haben ihre eigene Zeit. Es geht nicht nur um Entschleunigung, sagst Du, sondern um Handlungen, die andere Zeiten möglich machen, beginnen lassen.
Zeit entsteht in dem Bewusstsein, das ich vom Körper habe – kann man das heute noch so sagen? Der Körper ist immer mit uns. Trotz aller Technik ist er hineingestellt in die Materie, die ihn beeinflusst, und die Materie, die er beeinflusst, ein Tätigkeitszentrum. Ein Ort, wo die empfangenen Eindrücke intelligent ihre Bahn wählen, um sich in Regungen und Bewegungen auszubreiten. Und wenn man diese Tätigkeiten etwas verlangsamt, abwartet, dann ersinnen diese Regungen und Bewegungen selbst eine Umsetzung, sie machen sozusagen wortlose Vorschläge. Ich muss „fast-nichts-tun“, ich muss „eher-nicht-wollen“. Eher nicht auf die übliche Weise nachdenken, sondern mich darauf konzentrieren, wie ich mir selbst gegenüber eine eigenartige Verzögerung vollziehen kann und so von meinem Ich-Begriff, von mir als Subjekt Abstand nehme. –> Reflex und Reflexion.
Diese Zeiträume sind nicht willenlos oder gütig. Sie sind lebendig und herb. Sie widersetzen sich der sinnlichen Welt nicht. Sie lassen das Begehren kreisen. Ausbreitung, Durchdringung, Zeit und Sinn – Sinn, wie man vom Sinn eines Wasserlaufes, eines Satzes, dem Sinn eines Gewebes, eines Geruches spricht. Und der Sinn, der nachsinnt und weitersinnt, ist, eh er sich’s versinnt, mit seinen Sinnen immer mehrdeutig.
Diese Zeit als Sinn gibt es nur, wo sie nicht gänzlich ist, sie muss sich entfalten. Tut sie das nicht, so sterben wir.
… Verzeih, manchmal schweife ich ein wenig ab. Das passiert in dem Bemühen, nicht zu direkt auf Dinge loszustürmen oder sie in Angriff zu nehmen, wie man so sagt – und so tut, als wäre das nicht eine potentielle Kriegserklärung, ein Übergriff, wenn auch in dem Versuch, Dinge in den Griff zu bekommen. So sitze ich hier und schreibe diese Zeilen mit der Hand, weil ich hoffte, es werde mein Denken verändern. Ich stolpere über meine eigene Unleserlichkeit und lege den Stift einen Moment aus der Hand und betrachte die Bewegungen meiner Hand ohne Stift. Versuch zu begreifen, in Berührung zu kommen. Annäherung an ein Schreiben ähnlich den nächtlichen Aufzeichnungen, wenn ich meine Träume einlade, ihre Spuren zu hinterlassen. In andere Schichten einzutauchen. Schichten auftauchen zu lassen. Sinken, Schweben. Schichten. Sichten. Kindheit. Strumpfhose. Sie ist immer verrutscht. Und die Haube, sitzt nie richtig – ich auch nicht –, anziehen und dabei gleichzeitig den warmen Kakao austrinken. Bitte ohne Haut. Im besten Fall hilft die ganze Familie mit, damit was weitergeht, hopp hopp. Was schaust du denn, träum nicht, hopp hopp. Antrieb und Sprung, im besten Fall noch umschauen, was war dort und ist zugleich da, und schon ist die Drehung gemacht. Wie ist das passiert? Pirouetten Palaver. Irma raunt mir zu: „Habe stets eine kleine Browning-Attrappe bei Dir, mit der Du knallen kannst. In fast allen Fällen genügt es, sie zu zeigen. Sollte dennoch jemand auf Dich schießen, so springe rechtzeitig nach links und stoße ein Tischchen um oder einen Stuhl. Den zweiten Schuss kannst Du oft verhindern, indem du deinem Gegner die Waffe vor die Füße wirfst.“
Liebe Miryam,
meine Waffe, so könnte man sagen, ist die Überzeugung, dass die Produktion eines Tatbestandes untrennbar mit dem Ort verbunden ist, an dem er zur Aussage gebracht wird – mit dem Ort, an dem der Tatbestand sich als Aussage veranstaltet. Können die Verortungen Repräsentationsraster verschieben? Das ist mein dringlichster Wunsch, und den will ich erforschen und habe dafür die besten Partner_innen. Wir gleiten hin und her zwischen einem Ich und einem Wir. Wir sagen ich, und ich sagt wir. Wir haben uns etwas aufgelöst, wir haben uns verkleidet, wir sind für eine kurze Zeit jemand anderer geworden. Dein Partner ist zurückgetreten, damit wir Partner werden können. Ein Team, eine Bande, die plötzlich entsteht und sich wieder löst. Es soll keine Anmaßung sein, zu sagen, hier sprechen viele, keine Anmaßung, zu sagen, wir singen. Keine Anmaßung, dich einmal mehr zu bitten, erzähl. Erzähl von den Ägypter_innen, hier, jetzt.
Erst dachte ich, ich muss nach Ägypten, dann dachte ich, ich muss nicht nach Ägypten. Ich sollte zu einem Ort, der am weitesten davon entfernt ist, eine Insel irgendwo, vielleicht im pazifischen Ozean, und dort eine Geste der Zugehörigkeit setzen, eine Art imaginäres Land, in dem Formen von Beziehungen entstehen können, die nicht von Machtstreben durchdrungen sind. Diese Insel als Assemblage von Ägypten und anderen Ländern. Ich könnte diese Insel „diese-Insel-ist-nicht-zu-verkaufen“ nennen, oder sie namenlos lassen, als Ort der Begegnung, der Potentialität. Als Widerstand, Aufruhr, darauf beharrend, dass dies ein wesentlicher Teil der Wirklichkeit ist. Bas Jan Ader hat vielleicht eine ähnliche Insel gesucht in seinem Boot Ocean Wave, „In search of the miraculous“. Er ist nie zurückgekommen.
Hier und dort bin ich leise bei denen, denen Gewalt zugefügt wird. Immerwährende Frage: Was tun? Wie tun?
Deleuze sagt ja, links Sein ist eine Frage der Wahrnehmung. Und dieses links Sein – das ja als Wort, so scheint es, auch nicht mehr aktuell, und doch so viel mehr als ein Wort ist –, nämlich, wie Deleuze sagt, eine Frage der Wahrnehmung, ein Problem des Werdens, und: niemals aufzuhören, Minorität zu werden, minder zu werden, sich zu entziehen. Die Linke gehört nie zur Mehrheit. Aus einfachem Grund: Die Mehrheit nimmt an, daß die Massen sich nicht für etwas entscheiden können, sondern fester Normen bedürfen – im Westen zählt zu den Standards jeder Mehrheit: männlich, erwachsen, kräftig, städtisch. Dieser Standard ist noch dazu eine Art und Weise des Tuns, ist ein Format, eine Kommunikationsform geworden. Die Mehrheit wird also, ihrer Natur nach, von welchem Zustand auch immer in einen anderen, standardisierten, übergehen, und so ab einem bestimmten Punkt ihren Standard etabliert haben. Die Mehrheit ist nie irgendjemand, sondern ein leerer Standard. Die Mehrheit ist Niemand, die Minderheit hingegen die ganze Welt. Usw.
Deine Sabina
Liebe Miryam,
Traum: Ein junger Mann, der mir den verschlüsselten Brief zukommen lässt. Dieses gefaltete Papier, aus dem ein weiteres gefaltetes Papier heraus fällt. Er will es mir schon wieder wegnehmen, und ich sage „nein“ und öffne es. Es ist der Vorhang der Staatspolizei, und in den Falten des Vorhangs sind diejenigen versteckt, die sich vor der Staatspolizei fürchten müssen. Ihre Geschichten sind in den Falten des Vorhangs aufgeschichtet.
Liebe Miryam,
nichtlagebestimmtes Inszenieren, ein wirklich Machen ins Bild zu rücken, lokal in Beziehung zu treten, was nicht bedeutet national. Der Versuch einer Sinnbestimmung des sozialen Tuns, ohne Mitspracherecht einer profitorientierten Wirtschaft. Mikrobereiche, Empfindsamkeit, Intelligenzen, Wunschvorstellungen, Tanzen.
Deine Sabina